01 
JUN 
2022

Von der Großstadt auf die Schaffarm: Mein neues Leben als Shearing Shed Hand

Vor zwei Monaten noch arbeitete ich in einem Corona Testzentrum und brachte etwa hundert Mal am Tag den Satz „Bitte einfach einmal in das Schälchen spucken” über die Lippen - und jetzt verdiene ich mein Geld auf einer Schaffarm mitten im Nirgendwo von Australien. Aktuell wohne ich in einer Zweitausend-Einwohner-Stadt namens Nyngan in einem riesigen Haus mit einem Farmer und seinem Sohn, einer Backpackerin aus Singapur und einer aus Kolumbien zusammen. 

Meine Zeit in Sydney 

Als ich vor mehr als drei Wochen in jenes Flugzeug gestiegen bin, bin ich nicht nur ans andere Ende der Welt, sondern auch in ein komplett neues Leben geflogen. In ein Leben, das ich zwar liebe - aber dessen Anfang schwerer war, als ich gedacht hätte. Meine Zeit in Sydney über war ich trotz Reisegruppe und fünf Millionen Einwohnern einsamer denn je. Ich glaube, ich hab seit ich hier bin keine existierende menschliche Emotion ausgelassen. Alles von Freudentränen über Atem zitternde Heulkrämpfe, bis hin zur schlechtwetter bedingten Langeweile. Ja - ich lebe quasi meinen Traum - aber gleichzeitig durchlebe ich auch 16 Tausend Kilometer Distanz zu den Menschen, die ich liebe. Meine Beziehung, die ich bis zum 27. Juni durch einen 6,5 Zoll Bildschirm führen muss. Konstant Englisch Sprechen. Alles Dinge, an die ich mich zwangsweise gewöhnen musste. Aber wie lautet eine meiner Grundeinstellungen so schön: Nichts ist jemals einfach - aber alles ist einfach genug, um damit umgehen zu lernen. Und das hab ich.

In Sydney fing ich an, mir die Vorteile (vor allem die Freiheit und Unabhängigkeit) am allein Reisen bewusst zu machen. Neben etlichen Cafébesuchen und Stadtspaziergängen, setzte ich mich an einem Tag spontan in die Fähre zum Manly Beach, klapperte dort ein paar Läden ab, holte mir Sommerrollen und einen überteuerten 15 Dollar Matcha Eistee und war einfach nur glücklich, am Meer sein zu dürfen. Nachmittags kaufte ich mir eine heiße Schokolade, führte Small Talk mit der Barista und setzte mich an den Strand. Ein ziemlich perfekter Tag - bis ich volle Kanne von einer Welle erwischt wurde und ich bis zu den Knien unter Wasser stand. Jener Strandbesuch endete mit dem Kauf von reduzierten 18 Dollar H&M Schuhen und einer Setz-dich-weit-genug-vom-Meer-weg-Lektion.

Als hätte mich das Universum an das große Ganze erinnern wollen. Jenes klassische: Das Leben passiert in Wellen. Wasser kommt, Wasser geht - gute Zeiten, schlechte Zeiten - und im Notfall bleibt immer noch das Schwimmen - oder die Anschaffung eines neuen Paares Sneaker (Ich hatte nur ein paar Schuhe mit, die jetzt meine Arbeitsschuhe sind (Farmen sind schlammig)).

Manche Tage sind zwar immer noch schwer, aber letztendlich will ich nirgendwo anders sein als genau da, wo ich jetzt bin. Ich hab das Gefühl, mir selbst mit jeder neuen Erfahrung, jedem Gespräch und jedem weiteren Schritt aus meiner Komfortzone näher zu kommen. Ich hab meine Heimatstadt nicht verlassen, um vor etwas davon zu laufen - sondern um “in mich selbst rein zu rennen”. Und es funktioniert. Außer ein paar Menschen vermisse ich rein gar nichts aus Deutschland. Was ich damit sagen will ist: Unterm Strich bin ich glücklich. Als hätte der Krieg in meinem Kopf endlich aufgehört zu wüten und als schlüge das Meer in meinem Herzen keine Tsunamis mehr, sondern nur noch Wellen, die friedlich in Hügeln rollen. Es ist die Art von Frieden, die ich mir zwar immer vorstellen - aber nach der ich nie greifen konnte. 

Das Leben in Nyngan

Mein „Umzug” nach Nyngan hat einiges - eigentlich fast alles – verändert. Am Besten: Die Ablenkung. In einer Fernbeziehung können sich 27 Tage anfühlen als paßten sie in die Ewigkeit. Arbeiten hilft. Plus: Die Wochenenden verbringe ich in der Stadt. Barbecue, Campfire, Angeln. Das „echte Australien Leben” kennenlernen. Die anderen Backpacker - meine Arbeitskollegen - Gesellschaft - allgemein hier zu sein, tut mir wirklich gut. 

Die Arbeit als Shearing Shed Hand

Das Team besteht aus 17 Leuten - davon sind 5 Schafscherer. Man bleibt zwischen ein paar Tagen bis hin zu einigen Wochen an einem Ort (abhängig von der Anzahl der Schafe), arbeitet dort und reist dann weiter zur nächsten Shearing Shed. Wenn der Arbeitsplatz zu weit entfernt ist, übernachtet man auf der Farm. 

Als Shearing Shed Hand gibt es grob zusammengefasst drei Aufgabenbereiche: Wolle zusammenkehren (“Sweeping”),  die Fließe aufsammeln und an einem Metalltisch die Wollfließe "skirten".  Bisher hab ich nur “Sweeping” gelernt. Das heißt: Ich sammle die geschorenen Bauch Wollstücke der Schafe auf und werfe sie in die Ballenpresse, wo sie nach einem bestimmten Gewicht zu Würfeln komprimiert werden. Nebenbei wische ich verbleibende Wollteile, die nicht zum Fließ gehören, zusammen und packe sie in einen Extra Behälter. Also: Bücken, Rennen, Wischen - und das mit stetigem Blick auf die 5 Schafscherer. Sobald das nächste Schaf dran ist, muss der Boden sauber gekehrt sein. Ab und an brechen ein paar Schafe aus und müssen wieder eingefangen werden. Und nebenbei läuft Musik aus einer riesigen bunt leuchtenden JBL Box. Aller zwei Stunden ist Essenspause - Snacks und Gerichte zubereitet von einer ehemaligen Shearing Shed Hand und gegenwärtigen Köchin. 

Der Muskelkater ist unbeschreiblich schmerzhaft, ganz abgesehen von der Anstrengung und der Erschöpfung. Es gibt absolut keinen Sport mit dem man sich auf diese Art von Bewegung vorbereiten kann. Das sei alles bloß Gewöhnungssache. Und trotzdem bin ich gerade irgendwo zwischen „Ich hasse diesen Job und will kündigen” und „Das ist die verrückteste Arbeit, die ich jemals haben werde. Ich will wissen, wo meine Grenzen liegen, bin zu ehrgeizig, um jetzt aufzugeben und brauche das Geld. Außerdem sind die Menschen hier wirklich toll.” Für 208 Dollar Netto am Tag - ich muss weder für die Unterkunft, noch für das Essen zahlen - (noch) auszuhalten. 

Mein Chef hat mir von ehemaligen Shearing Shed Hands erzählt, die zwei Jahre für ihn gearbeitet hätten, zwischendurch gereist und am Ende mit 55 Tausend Euro nach Hause gefahren seien. Zum Sparen ein guter Job - aber wie gut das alles für mich ist, weiß ich noch nicht. Siehe: Ein Mädchen aus Argentinien, das nach einem Tag weinend aufgegeben hat. Dieser Job ist nicht für jeden das Richtige. Viele andere Backpacker hörten nach ein paar Tagen oder einer Woche auf - ich bin  unsicher, ob das nur an der Arbeit liegt - ich kann meinen Chef noch nicht wirklich einschätzen. 

Keine Ahnung, wohin mich die nächsten Wochen führen werden - abgesehen von täglichem Muskelkater und einer mehr als verrückten Erfahrung  - aber ich geb’ mein Bestes und wenn das nicht reicht, bin ich weg. 

- jill 

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