Wohnt man nicht gerade in der Nähe oder arbeitet in der Shearing-Industrie, kennt man diesen kleinen, abgelegenen Ort im Südwesten von Australien wahrscheinlich nicht: Die 850-Einwohner-Gemeinde Pingelly, die eher nach einer Gummibärchensorte als nach einem Dorfnamen klingt.
Ausgerechnet ein solches Kaff, etwa 200 km östlich von Perth, war der letzte Stopp auf meiner Australienreise. Mein Freund und ich arbeiteten wieder als Roustabouts in den Shearing Sheds. Das ist jetzt über 9 Monate her und damit lade ich recht herzlich ein zu dieser kleinen Zeitreise.
23. Februar 2023
Rob (einfach nur Rob, dessen Nachname ich nicht mehr kenne), der neue Shearing Contractor meines Freundes und mir, holte uns gegen 22 Uhr abends mit seinem Privatauto von der Bushaltestelle in Pingelly ab. Die Straßen wirkten wie die einer Geisterstadt. Nacheinander stellten wir uns vor. Danach räumte Rob unser Gepäck in den Kofferraum und wir stiegen ein.
Nach ein wenig Smalltalk, teilte Rob uns mit, dass er uns auf dem Weg zur Unterkunft kurz die „Stadt" zeigen wolle. In Pingelly bedeutet das: man fährt in sehr langsamen Tempo die Hauptstraße entlang, die Rob mit einem Lächeln als Stadtzentrum bezeichnete und darf folgendes bewundern: einen winzigen, überteuerten Supermarkt, eine Bank, einen Fleischer, einen Secondhand-Laden und zwei Pubs. Das war's.
Nochmal zur Info: Wir hatten kein Auto mehr, und das hier würde unser Zuhause für die nächsten 7 Wochen sein.
Einmal um die Ecke gebogen und etwa 15 Sekunden Fahrzeit später hielten wir vor einem der vielen Wohnhäuser, die die Straße säumten. Rob klärte uns auf: Mein Freund würde für ihn arbeiten, und ich für Craig, einen anderen Contractor. Das bedeutete, dass wir dieses Mal getrennt voneinander arbeiten würden. Außerdem mussten wir Miete zahlen und es gab einen Shearing-Bus. Ein Shuttle, der Scherer und Rousis morgens abholte, zur Arbeit fuhr und sie nachmittags wieder nach Hause brachte (gefahren von einem Crewmitglied).
Die Unterkunft: Maida, Maida, Maida
Maida, unsere exzentrische, etwas demente Vermieterin, empfing uns sehr freundlich auf ihrem riesigen Grundstück. Ihr Haus, einst eine alte Bäckerei, hatte sie vor vielen Jahren in eine Geschäftsidee; ein Gästehaus umgewandelt, hauptsächlich für Schafschärer, die zur Shearing-Saison nach Pingelly reisen.
Leider existiert kein Foto von Maida, trotzdem ist sie unvergesslich: eine schrullige, unfassbar redselige, liebenswerte Omi mit einem grauen Chihuahua namens Smokey, den sie stets in ihrem dunkelblauen Elektromobil auf dem Schoß zum „Gassi gehen" chauffierte.
Ich glaube, sie war fast 80 und fuhr immer noch Auto, sogar ziemlich gut. Ein paar Mal nahm sie uns mit zum Einkaufen in einen Discounter in einer Kleinstadt neben Pingelly. Das werde ich ihr nie vergessen.
Was ich auch nie vergessen kann: Maidas veraltete Ansichten. Jede Kritik an der Küchensauberkeit oder an so ziemlich allem anderen (oft unbegründet) brachte sie stets zu mir, niemals zu meinem Freund – schließlich sei ich ja die Frau. Außerdem hatte sie einen Zweitschlüssel für unser Zimmer und brach ein paar Mal bei uns ein, wenn wir auf Arbeit waren. Wieso? Ich glaube, das wusste sie selbst nicht.
Das offene Wohnzimmer mit integrierter Küche sowie der Garten waren durchgängig von Pflanzen geschmückt. Maida, mit ihrer Leidenschaft als begeisterte Hobbygärtnerin, verlieh diesem Ort einen ganz besonderen Charme, der auf unglaublich viel Arbeit zurückzuführen war. Ihr oft wiederholter Lieblingsspruch, den sie mindestens siebenmal pro Woche auch in Bezug auf ihr Gästehaus zum Besten gab, lautete: "I let things grow!"
Schöner Wohnen in Pingelly
Unser Zimmer befand sich im Schuppen, lediglich durch improvisierte Wände getrennt von der Garage und der Gemeinschaftstoilette. Ein winziges Zimmer, ein winziges Sofa, ein kaputter Fernseher und ein separater Vorraum mit einem Tisch, zwei Stühlen und einem Kühlschrank. Jegliche Geräusche aus der Toilette waren dort unüberhörbar. Eine Klimaanlage bei Temperaturen von bis zu 40 Grad? Nicht bei Maida. Und das Beste: Kein WLAN.
Wir hatten alles Lebensnotwendige und gewöhnten uns an die neuen Umstände. Doch etwa zwei Wochen später begann es unangenehm zu riechen, vor allem, wenn man im Bett lag. Schnell stellte sich heraus, dass Maidas Garage ein Mäuseproblem hatte, das sie mit Gift bekämpfte. Die Kadaver der Mäuse verrotteten hinter den Wänden – eine äußerst unschöne Enthüllung des Geheimnisses.
Dennoch blieb die Arbeitsmotivation. Wir verdienten mal wieder 38 Dollar die Stunde und sparten für unseren Bali-Urlaub, der im Anschluss folgen würde.
Ich präsentiere: Der Supermarkt in Pingelly, die 1A Kühlung, das alltägliche Outfit meines Freundes und wahrscheinlich der Moment, an dem er ein Fertiggericht zum halben Preis, das bereits seit 2 Monaten abgelaufen war, kauft.
Die Arbeit
Viele der Scherer wohnten im „Shearing Quarter“, der Unterkunft, die ihnen der Shearing Contractor zur Verfügung stellte. Von dort aus fuhr der Bus los, direkt vor Maida's Haustür. Hier wurde ich jeden Tag gegen 7 Uhr morgens abgeholt. Ein alter, verrosteter Kleinbus, genauso wie ich es mir vorgestellt hatte.
Die Arbeit war in Ordnung, zumindest nichts Neues. Ich kam gut mit allen Kollegen aus und genoss es sehr, mehr über das Leben der Scherer zu erfahren. Im Gegenzug erzählte ich von Deutschland.
Während die Hinfahrten zu den Sheds meistens still blieben und sich fast jeder der Musik seiner Kopfhörer widmete, waren die Rückfahrten das Gegenteil.
Und da saß ich: auf dem Rückweg von meinem ersten Tag, als die Scherer eine Holzpfeife zum Gras rauchen herausholten und mir anboten. Das war eigentlich nur eine Frage der Zeit, wie mich die zwei Monate in Victoria gelehrt hatten. Die Shearing-Industrie und Cannabis scheinen öfter mal zusammenzuhängen. Einsamkeit, körperliche Schmerzen, Langeweile, Sehnsucht, Flucht vor Problemen, Spaß… die Liste an Gründen ist offensichtlich. Auch Alkohol spielte hier natürlich wieder eine große Rolle. Die Tage sind lang und anstrengend. Drogen wirkten dort als eine sehr normalisierte Art und Weise, damit umzugehen. Pingelly-Lifestyle.
Natürlich kann und darf man nicht alles pauschalisieren, auch nicht für jedes Shearing Team. Während meiner Jobsuche bin ich auch auf „drugfree“ Teams gestoßen, wo die Contractor genau das nicht tolerieren.
Der hustende Shearing Bus
Nach ein paar Tagen fiel mir in den Pausen immer deutlicher ein Husten im Shearing-Bus auf. Es war meine Roussie-Kollegin. Manchmal ging sie alleine, manchmal mit einer anderen Shed Hand oder sogar einem Scherer. Und jeder konnte es riechen – es war kein Geheimnis. Egal, wie viel Erfahrung man hat, immer high arbeiten funktioniert nicht.
Im Laufe der Zeit erfuhr ich, dass jene Kollegin aus einer sehr finsteren Vergangenheit stammte und wahrscheinlich noch andere Drogen nahm, um dem High-Effekt entgegenzuwirken. Aber auch das wurde toleriert.
Getrennt von meinem Freund zu arbeiten war zwar nicht so lustig, aber immerhin hatte ich das langsamere Team. Im „groofy“ Team, wie es oft genannt wurde, zu arbeiten war viel entspannter als das, was mein Freund erlebt hat. Die Scherer waren massiv schneller und schoren doppelt so viele Schafe wie die Scherer in meinem Team.
Freizeit in Pingelly
Während wir autolos in Maidas Gästehaus ohne WLAN Wochen lang festsaßen, mit viel zu viel Zeit, bei täglichen 35 Grad im australischen Sommer, hatten wir zeitnah das Gefühl, verrückt zu werden. Mein Freund und ich fingen sogar an, zu kochen und zu backen. (Zumindest soweit die Zutaten im Einkaufsbudget lagen.) Trotzdem gab es unter der Woche eigentlich nur Nudelauflauf und Pizza. Günstig und schnell.
Einmal nahmen wir das Geld für ein Dinner im Pub in die Hand. Romantisch in Badelatschen und Hausschuhen, ganz klassisch Pingelly-Style. Keine schrägen Blicke. Vor allem im Vergleich zu Deutschland. Man stelle sich vor, mein Freund ginge in diesen flauschigen Kmart-Hausschuhen in ein nettes Restaurant.
Auch jenseits der Hausschuh-Thematik: Es hat wirklich niemanden interessiert, wie man ausgesehen hat. Alles, was wichtig war: was für ein Mensch man ist. Und das ist die Art von Freiheit, die ich nie vergessen werde. Ich musste nie darüber nachdenken, was ich anziehen würde. Ich habe mich nicht geschminkt. Und ich habe mich trotzdem wohl gefühlt. Und jenes „trotzdem“ in diesem Satz ist einfach nur traurig.
Am Ende eines Arbeitstages hatte ich Wolle im Haar, Wolle auf jeglichen Klamotten, ich roch, nein ich stank nach Schaf und hatte an die 300 Mal in Schafskot gefasst – und es war egal. Es war normal. Und obwohl ich definitiv nicht für den Beruf Shearing Shed Hand gemacht bin, vermisse ich dieses „normal“ manchmal. Oder vielleicht nur die Erinnerung daran.
Ein neuer Gast bei Maida
Nach einigen Wochen zog ein Neuseeländer namens Ruben in Maidas Gasthaus ein. Sie kannten sich bereits. Ruben reiste jedes Jahr mehrmals, ähnlich wie viele andere Kiwis nach Pingelly, um dort zu arbeiten. Grund dafür waren die Hochwasser in Neuseeland und die bessere Bezahlung in Australien.
Ruben war mit einigen Scherern aus unseren Teams befreundet. Und so landeten wir oftmals abends gemeinsam zusammen sitzend auf der Veranda vor seinem Zimmer; plaudernd, trinkend, rauchend. Definitiv die Abwechslung, die mein Freund und ich dringend gebraucht haben.
Und das war unser Leben in Pingelly…
Eine kleine Hölle aus Arbeit und sterbenslangweiligen Momenten, mit einigen erlebnisreichen Lichtblicken und schönen Erinnerungen. Dieser Ort war, wie so oft beim Reisen, eine andere Welt – irgendwie schrill und nicht ganz greifbar.
Zwar hatte ich mir meine letzten Wochen Australien anders vorgestellt als zu oft high in Pingelly, aber mehr Australien geht wahrscheinlich nicht.
Jetzt wieder in Deutschland, wenn ich so viele Monate später zurückblicke, versuche ich immer noch zu verstehen, dass dieses ganze Jahr in genau diesem Ausmaß an Verrücktheit wirklich passiert ist.
Es hat mehr wehgetan als gedacht, dabei zuzusehen, wie mein altes Normal zum neuen Normal geworden ist. Ich vermisse die Abenteuer, ich vermisse die Landschaft, die Menschen, das Meer, die Sprache, die Freiheit und die Möglichkeiten. Aber ich weiß, dass ich früher oder später zurückkehren werde – für länger als ein Jahr. Denn wenn ich mich einmal verliebe, führt kein Weg mehr woanders hin.
Als würde alles, was ich erleben durfte, in das Schema (m)einer Lieblingsserie passen. Und meine Sehnsucht passt in ihr Ende.
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