15
SEP
2024

Warum ich nochmal nach Australien ziehe – und der steinige Weg dahin

„Der VHV Schutzbrief, mein Name ist Kohlmann, wie kann ich helfen?“, beginne ich mein 30. Telefonat heute. Gedankenversunken schließe ich den Flugsuch-Tab auf meinem Rechner und versuche, den Worten der Stimme am anderen Ende der Leitung zu folgen. „Können Sie mir ihr Kennzeichen nennen, bitte?“, erwidere ich, nachdem mir ein aufgebrachter Familienvater mit russischem Akzent von einem Wildunfall mit einem Elch in Ungarn berichtet.

Herzlich willkommen in meinem Leben als Telefonistin in der Unfall- und Pannenhilfe, auf der Flucht ans andere Ende der Welt (schon wieder). Aber wie zur Hölle bin ich eigentlich hier gelandet?

Eine Frage, die ich mir selbst immer wieder stelle. Und genau deswegen bin ich zurück auf diesem Blog, auch wenn sich mittlerweile manches irgendwie fremd und etwas peinlich anfühlt. Ich habe wirklich viel Arbeit, Herz und Geld in diese Webseite investiert. Plus: Meine Tagebücher könnten jederzeit bei einem Brand vernichtet werden – das Internet hingegen bleibt feuerfest. Außerdem ist diese Geschichte noch lange nicht zu Ende erzählt.

Also, zurück zum Anfang:

Zwischen meinem letzten Artikel vom 4. Mai 2023 und heute, im September 2024, liegen ein Monat Bali-Urlaub, die Rückkehr nach Deutschland, der Zusammenzug mit meinem damaligen Freund, ein abgebrochenes Germanistikstudium, die Anschaffung und wieder Abgabe von Zwergkaninchen, die Trennung von meinem Freund, ein Au-pair-Aufenthalt in Spanien, die Gründung einer Wohngemeinschaft mit jenem Ex-Freund, mein neuer Job und schließlich die Suche nach einem Nachmieter für die Wohnung ab Dezember. Dazwischen: eine Menge emotionales Chaos.

Mission Heimatstadt scheitert: Oktober 2023

Die dritte Woche meines Studiums. Ich sitze in einer Übung des Moduls Mittelhochdeutsch. Abgelenkt starre ich durch die Fensterfront nach draußen. Der Himmel hängt schwer in grauen Schichten, und der Herbstregen prasselt trostlos gegen die Scheiben. Alles, was mir durch den Kopf geht, ist: Ich will nicht hier sein. Weder in diesem Unigebäude noch in dieser Stadt oder in diesem Land. Ich bin schon wieder todunglücklich – und zwar auf die gleiche Art und Weise, die mich damals nach Australien getrieben hat. An diesem Tag wird mir klar, dass das, was ich für einen Wunsch hielt, nichts weiter war als eine dicke, fette Illusion.

Ich dachte, ich könnte die drei Jahre bis zum Bachelor durchhalten – und dann wieder reisen. Aber täglich mit dem Gedanken aufzuwachen: „Nur noch drei Jahre“? Dafür bin ich nicht in meinen Zwanzigern. Wenn ich unglücklich bin, liegt es allein in meiner Verantwortung, etwas daran zu ändern. Eigentlich verdammt einfach.

Natürlich habe ich trotzdem verzweifelt nach anderen Studiengängen und Ausbildungen in Deutschland gesucht. Vergeblich. Ich hatte sogar schon einen Praktikumsplatz in einer Redaktion sicher, habe ihn aber abgesagt, obwohl das schon immer ein Kindheitstraum von mir gewesen ist. Hier gilt dasselbe wie bei meiner Wahl für oder eher gegen Germanistik: Ja, ich liebe Worte. Ja, ich liebe das Schreiben. Aber manchmal bleiben Hobbys eben lieber einfach nur Hobbys.

Ich begann, mir die Frage „Was möchte ich studieren?“ vorerst mit Marketing zu beantworten und um „Welches Leben möchte ich wo führen?“ zu ergänzen.

Der erste Dominostein in der Kette meiner Entscheidungen fiel an einem Novemberabend 2023. Jemand, den ich ironischerweise in Melbourne kennengelernt hatte (dorthin geht mein Flug), vermittelte mir den Kontakt zu einem Deutschen, der das geschafft hat, wovon ich seit meinem ersten Besuch in Sydney träumte. Mich hatte dort jemand auf der Straße angesprochen und gefragt, ob ich hier studieren würde. Ich – studieren – in Australien. Die Vorstellung davon hat mich nie ganz losgelassen. Aber das „Wie“ schien immer irgendwie zu groß. Seit jenem Telefonat hat sich – ein Hoch auf die folgende Melodramatik – alles verändert, für mich und meine Zukunft.

Ich weiß jetzt: Es ist möglich. Und ich weiß jetzt auch, wie. Die Antwort nervt mich ein wenig, aber wie so oft im Leben lautet sie: Geld. Und die Antwort darauf: ein zweites Work and Travel, mit einem Sparziel von mindestens 30.000 AUD. In Deutschland unmöglich – in Australien durchaus realistisch.

Zwischenstation Spanien: März 2024

Frisch getrennt saß im Flugzeug nach Spanien. La Herradura. Ein kleines, zauberhaftes Dorf im Süden des Landes. Mein neues Zuhause für zwei Monate.

Ich war die Nanny für einen Fünfjährigen. Ich durfte zum Meeresrauschen einschlafen und lebte meinen Haus-am-Strand-Traum. Spanien war wie ein Kurort für mein selbst gebrochenes Herz. Zufällig war meine Gastgeberin auch noch Psychotherapeutin. Ich war definitiv zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Sie ist Amerikanerin, der Vater des Kindes ist Ire. Und Tiago selbst spricht Englisch und Spanisch – ein beeindruckender, energiegeladener, persönlichkeitsstarker kleiner Mann.

Tiago hat mich einiges gelehrt. Zum Beispiel, dass man mit Plastikaugen, einem Edding und einfachen Baumblättern einen wirklich lustigen Nachmittag verbringen kann. Oder dass ich ziemlich cool bin, weil ich fähig bin, Papierschiffchen und -flugzeuge zu falten. Ich begegnete meinem inneren Kind: ließ mich über den Spielplatz jagen, sprang vom Klettergerüst, verlor in etwa 50 Runden Hopscotch und stellte mich der finsteren, nicht für Erwachsene gebauten Röhrenrutsche (in der ich nicht alle halben Meter fast stecken blieb). Aber ich lernte auch, Nein zu sagen und Grenzen zu setzen.

Das Ganze lief über Workaway: keine Bezahlung, aber kostenlose Unterkunft und ein voller Kühlschrank. Ich passte nur drei bis sechs Stunden am Tag auf den Jungen auf und hatte die meisten Wochenenden frei. So blieb mir viel Zeit für mich. Ich färbte meine Haare blond und entdeckte an den freien Tagen mein Solotravel-Ich. Und obwohl ich bei all dem zu 85 Prozent ein insomnietränktes, emotionales, einsames Wrack war, bin ich unglaublich dankbar für diese Erfahrung. Ich bin dem Trennungsklischee gefolgt, habe mich neu erfunden, das Alleinwandern für mich entdeckt und etwa 200 Dinosaurier und 400 Monster gemalt.

Ich stellte eine „Erinnerungen-mit-mir-selbst-Bucket-Liste“ auf und gab mir Aufgaben. So ging ich zum Beispiel zum ersten Mal in meinem Leben allein in eine Strandbar – warum hat das eigentlich 21 Jahre gedauert? Zum Sonnenuntergang. Und der Drink war gratis (danke an den netten spanischen Kellner an der Stelle). Und wurde es doch zu einsam, sprang ich in den nächsten Bus nach Málaga oder Granada - direkt in den sozialen Hostelpool. Es tat gut, Menschen kennenzulernen, an einem neuen Ort, einfach als ich selbst und nicht länger als die Freundin von jemandem. 

Hallo Deutschland. Hallo Schutzbriefabteilung.

Direkt nach Spanien begann ich meinen Job in der Unfall- und Pannenhilfe. Nachdem ich meinen Kopf während der zweiwöchigen Schulungszeit mit Wissen über Kfz-Versicherungen vollgestopft hatte, stellte sich der Sprung in die Telefonie als ziemlich große Herausforderung heraus. Es hat drei Wochen gedauert, bis das Zittern in meinen Händen verschwand, jedes Mal, wenn ich einen Anruf entgegennahm.

Ich war emotional überlastet. Ich vermisste Spanien und das Meer. Ich vermisste mein anderes Leben. Und ich erkannte: Ein temporärer Ortswechsel und ein paar schöne, verrückte, schräge Erlebnisse sind kein Freifahrtschein, um eine Trennung zu verarbeiten.

Dazu kamen noch die Nachwirkungen meiner Insomnie – ein klassischer Fall von seelischer Erschöpfung. Und mit dem Hintergrund meiner früheren sozialen Phobie erwies sich ein solcher Job als, sagen wir, mutig.

Anfangs war ich eingeschüchtert von überheblichen, wütenden, schreienden Maklern oder Kunden – jetzt kontere ich überfreundlich zurück und wünsche einen schönen Tag. Mittlerweile bin ich gut in die Rolle der Telefonistin hineingewachsen. Ich helfe Menschen. Und es gibt nichts Schöneres, als wenn sich eine völlig fremde Person bei mir für das freundliche Gespräch bedankt.

Trotzdem: Am liebsten sind mir immer noch 65-jährige Omis, die eine Panne an der Küste Frankreichs haben und mir ihre Lebensgeschichte erzählen oder über ihre Ex-Männer lästern. Oder wenn ich den Satz „Ja, das ist für Sie kostenlos. Das ist versichert.“ sagen darf.

Zahlen, Zahlen, Ziele

Das zweite Working-Holiday-Visum kostete mich am Ende 700 Euro  (diesmal mit dem erforderlichen Gesundheitstest in einer Privatpraxis in Berlin), der Flug 1.100 Euro (ungünstiges Ferien-Timing im Januar), 600 Euro für die Auslandskrankenversicherung, und mein Kontostand musste nach meinen Spaß-in-Spanien-Ausgaben (Ich bereue nichts!) wieder bei null anfangen. Immerhin: Nichts motiviert mehr für einen Zweck-Job als ein klares Ziel – Geld für meinen Neustart.

Und denke ich ein Stück weiter, träume ich ein Stück mutiger, über das Studium hinaus: Eines Tages werde ich ein Strandhaus besitzen. Sei es in Australien oder sonst wo auf der Welt. Ich sehe mich auf meiner zukünftigen Terrasse schreiben, und in einem Job, für den ich zumindest zu 60 Prozent der Zeit gern aufstehe.  Ich werde die Liebe meines Lebens heiraten, irgendwo am Meer. Und im Namen meines Mini-Ichs im Prinzessinnenkleid und in Absatzschuhen aus Plastik (Prinz Charming, finde mich)  – ich werde niemals damit aufhören, für  „glücklich-bis-an-ihr-Lebensende“ zu atmen. Möge es 40 Jahre dauern, möge ich an meinem Idealismus ersticken – ich kriege meine kitschige Strandhochzeit. Und ich bin bereit, dafür zu bluten.

120 Tage bis zum Flug.

Bin ich nervös? Ich wäre kein Mensch, wenn nicht. Aber ich wäre nicht ich, wenn ich nicht in mich, die Welt und meine „Alles-wird-wie-es-sein-soll“-Philosophie vertrauen würde. Seit Monaten sprinten rund 100 verschiedene Zukunftsszenarien durch meinen Kopf. In einem davon bin ich wieder Nanny, in einem anderen Barkeeperin, im nächsten Rezeptionistin, im vierten obdachlos, im fünften Stripperin, im sechsten heirate ich einen Kanadier, und in Nummer 85 sterbe ich an einem Krokodilangriff. Was ich damit sagen will: Nichts ist unmöglich. Alles wird spontan. Und obwohl ich hier und da wirklich zu ungeduldig für Ungewissheit bin, würde ich nichts daran ändern wollen. Ich lehne mich lieber zurück, sehe den Sommerwolken beim Vorbeischweben, den Blitzen beim Einschlagen und der Sonne beim Aufgehen zu.

Bis dahin genieße ich jedes Gespräch und jede Umarmung mit den Menschen hier, die ich liebe. Ich erinnere mich nur zu gut daran, wie es war und wie es sein wird, ein ganzes Leben zurückzulassen. Sehnsucht durch Bildschirme ist ein ekliges Gefühl – als hätte man honigverklebte Hände und würde wasserlos in der Wüste festsitzen.

Auf Kurs.

Australien vor zwei Jahren fühlt sich an wie ein kitschiger Liebesroman, der bei „Sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende auf Bali“ hätte enden sollen. Aber mein Leben ist kein Buch, und wenn es eines wäre, dann kein Liebesroman, sondern eine stinknormale Autobiografie über ein Mädchen, das einfach nur versucht, herauszufinden, was Glück bedeutet – manchmal vielleicht ein bisschen zu sehr.

Aber Fakt ist: Ich denke, ich bin auf Kurs. Egal, wie anstrengend zur Zeit alles ist – ich wache jeden Tag mit diesem eigenartigen Gefühl auf, dass ich auf dem Weg nach irgendwohin bin. Für mich gab es in den vergangenen Jahren nämlich nichts Schlimmeres als den metaphorischen Blick auf eine Sackgasse. Ich hasste die Zeit zwischen meinem Abitur und der Grenzöffnung Australiens. Und ich hasste die Ungewissheit zwischen Australien und dem Danach. Und dann hasste ich das Danach, weil ein Studium der Germanistik nirgendwohin zu führen schien. Und ich hasste es, wieder in der Stadt zu sein, die ich eigentlich schon damals für immer verlassen wollte. Ich hasste die Kreise, die ich drehte. Aber ich liebe, wie sie enden. Weil ich „Ich schaffe es nie“ endlich mit „Wie schaffe ich es?“ ersetzt habe.

Vielleicht bin ich 21 und naiv. Oder vielleicht – ja, vielleicht – darf ich einfach nur 21 sein und tun, was sich richtig anfühlt, ganz ohne Bewertung und Befürchtung. Denn das hier ist genau die Zeit, um Fehler zu machen, die Zeit, um zu scheitern, die Zeit für Entscheidungen und Umbrüche.

„Kinder, manche Experimente sind nichts für zu Hause.“

Eines Tages werde ich 80 Jahre alt sein und meinen Enkelkindern die Geschichte meiner Zwanziger erzählen. Davon, wie ich mit 19 nach Australien geflogen bin. Wie ich mich kurz zuvor in den besten Freund meines Bruders verliebt hatte und wie schnell sich Pläne ändern können.

Ich werde von Spritti erzählen, dem unermüdlichen Mazda Tribute. Und von meinem 20. Geburtstag, an dem ich auf der größten Sandinsel der Welt aufgewacht bin, an einem menschenleeren Strand mit Fertigpancakes als Geburtstagskuchen. Wie mein Bruder und seine Freundin sich uns anschlossen. Wie wir über Kürbisfelder und Makadamienfarmen gescheucht wurden. Oder davon, wie ich high im Outback am Lagerfeuer mit australischen Schafscherern stand. Wie ich lachend in den sich drehenden Himmel blickte und die Milchstraße als „milk street“ übersetzte. „Oh, I forgot, Milky Way like the chocolate bar!“, hatte ich gesagt.

Ich werde meinen Enkeln erzählen, wie ich ohne Führerschein eine Erntemaschine fuhr – ganze 60 Sekunden lang, weil ich es nicht schaffte, zu lenken. Oder davon, wie ich im Bikini bei Gewitter um mein Leben durch den Regenwald gerannt bin. Und von dem türkisen Wasser auf Nusa Lembongan und Balis Märkten, auf denen man uns „cheap, cheap, cheap“ hinterschrie. Ich werde ihnen erzählen, wie angsteinflößend die Zukunft wirkte und wie ich mich für Sicherheit und die Rückkehr nach Dresden entschied. Ich werde erzählen, wie meine Zweifel an all dem wuchsen, schon vor Beginn des Studiums. Wie jeder einzelne Tag auf meine Brust drückte wie meterhohe Sandsteinfelsen. Und wie frei ich mich fühlte, als ich endlich den Mut fand, die eine richtige Entscheidung zu treffen: Australien, nochmal. Ich werde ihnen erklären, warum Liebe allein nicht genug ist. Ich werde von Spanien erzählen, meinem Job als Telefonistin und wie schräg die ganze Ex-Freund-WG-Sache wurde. „Kinder, gründet niemals eine WG mit eurem Ex-Partner. Manche Experimente sind nichts für zu Hause.“

Ich werde eine Oma sein, mit Geschichten über die ich lächeln werde.

Um zum Punkt zu kommen: Am 14. Januar um 6:10 Uhr sitze ich im Flugzeug in ein neues Leben, über das ich wieder schreiben möchte – für meine Familie, Freunde, jeden, den es interessiert, und für mein zukünftiges Ich, das hoffentlich nicht die Hände über dem Kopf zusammenschlagen wird, wenn es das hier liest.

Da ich ganz genau weiß, wie schwierig es ist, 1,5 Jahre meines Lebens in Worten aufzuholen, sage ich: Lieber jetzt als in einem Café in Melbourne, wo ich ziemlich sicher über ganz andere Dinge schreiben möchte.

Bis dahin wundere ich mich weiter über Elche in Ungarn und die Überraschungen des Lebens.

Und damit: Happy Halloween, frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins neue Jahr!

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